Was verbirgt sich hinter der behaupteten Vollbeschäftigung?

Leserbrief vom 05.01.2013

BEZUG: GN-Artikel „Rekordjahr für den Arbeitsmarkt“ und „Mehr in Bildung investieren“ vom 3. Januar 2013

Die Berichte enthielten folgende Formulierungen: „In der Grafschaft herrscht nahezu Vollbeschäftigung“ – „Die Zeitarbeit stellt kein Problem dar…“ – „Es gebe viele Arbeitnehmer, die lieber ein solches Arbeitsverhältnis (gemeint ist ein Zeitarbeitsverhältnis) annehmen würden“ – „Die Zahl der Arbeitsplätze klettern erneut auf ein Rekordhoch, die durchschnittliche Zahl der Erwerbslosen sank auf den niedrigsten Stand nach 20 Jahren“ – „Am stärksten wuchs im abgelaufenen Jahr erneut die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten“. Dies lässt unreflektiert den Schluss zu, dass es der Bevölkerung in der Grafschaft immer besser geht. Stimmt das wirklich?

Ich möchte diesen Zeilen weitere Schlagzeilen und Auszüge aus Berichten der GN gegenüberstellen.

15. Dezember: Jede dritte Stelle ist atypisch.
10. Dezember (Nordhorn): Altersarmut beginnt schon früh… jeder vierte Arbeitsplatz von Armut geprägt… Im letzten aktuellen Armutsbericht 2012 ist das sehr deutlich herausgearbeitet worden.
24. November (Veldhausen): Zur Rente schaffen es wenige.
15. November: Bei Frührentnern wächst das Armutsrisiko.
24. Oktober: Fast 20 Prozent der Deutschen sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.
19. Oktober: Sozialamt muss immer öfter helfen. Kompetenz schützt Frauen nicht vor Niedriggehalt.
14. September: Jeder siebte Niedersachse ist von Armut bedroht.
19. September: Reiche immer reicher, Staat immer ärmer.
11. September: Jeder Fünfte arbeitet für Niedriglohn.
3. September: Neue Warnung vor Altersarmut. Von der Leyen: Mehr Rentner bedroht als gedacht.
29. August: Immer mehr Rentner gehen arbeiten.
27. August (Hannover): Landesweit arbeitet jeder dritte Beschäftigte unter 25 Jahren für weniger als 8,50 Euro Stundenlohn (= unter 1360 Euro brutto im Monat).
16. August: 7,4 Millionen Deutsche suchen einen Job oder würden gern mehr arbeiten.
2. August (Nordhorn) dreimal mehr Leiharbeiter.
1. August: Gehälter von DAX-Vorständen mehr als verdoppelt.

Wie die Passagen zeigen, ist auch in der Grafschaft und im Land Niedersachsen noch viel zu tun. Herrn Hilbers Aussagen erscheinen vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig. „Vollbeschäftigung“ zu erreichen ist vielleicht sogar gar nicht so schwer. Die Frage stellt sich aber: Was verbirgt sich hinter der behaupteten „Vollbeschäftigung“? Sie erscheint mir eher ein Zug auf dem Abstellgleis zu sein. Und er rast mit Höchstgeschwindigkeit auf den Prellbock zu.

Wenn die geschaffenen „sozialpflichtigen Beschäftigungen“ nicht ausreichen, den Lebensunterhalt einer Familie zu bestreiten und wenn junge Menschen nicht in der Lage sind, sichere und unbefristete Arbeitsstellen anzutreten, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, dass in Deutschland zu wenig Kinder geboren werden. Da hilft auch kein Betreuungsgeld.

Die Rechnung bekommen wir aber erst im Zeitraum nach einer Generation. Menschen, die heute bereits soziale Unterstützung bekommen, weil sie zu wenig verdienen, werden als Rentner nicht in der Lage sein, von ihrer Rente zu leben. Auch in der Grafschaft lebt eine vierstellige Zahl an Menschen, die trotz Vollzeitjob auf soziale Unterstützung angewiesen ist. Auch kann ich nicht glauben, dass Menschen in der Grafschaft gerne einen Zeitarbeitsjob annehmen würden, wie Herr Hilbers und Herr Skutta von der CDU behaupten. Ich bin überzeugt davon, dass Menschen einen Zeitarbeitsjob nur annehmen, weil sie sich davon eine Festanstellung erhoffen, leider oftmals vergeblich.

Jeder Mensch hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Für die Menschen in unserer Grafschaft wünsche ich mir, dass die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft den Mut haben, den Teufelskreis zu durchbrechen und sich nicht nur auf bloße, nichts sagende Zahlen zur Anzahl der Beschäftigten verlassen. Ich wünsche mir, dass sie menschenwürdige Beschäftigungsverhältnisse schaffen. Wer heute ein menschenwürdiges Gehalt erhält, entlastet die Sozialkassen heute und in der Zukunft.

Bernd Mentgen, Füchtenfeld